Das Konzept der WE ARE PART OF CULTURE
Ziele | Methoden | Auswahl | Kritik
Projekt 100% MENSCH
Konzept
Das Projekt 100% MENSCH präsentiert seit Herbst 2017 eine große Kunstausstellung zum prägenden Beitrag von LSBTIQ* an der gesellschaftlichen Entwicklung Europas: WE ARE PART OF CULTURE. Gezeigt werden mittlerweile über 50 eigens für die Ausstellung geschaffene Portraits von Persönlichkeiten, die die Gesellschaft nachhaltig und positiv geprägt haben. Die Ausstellung wanderte zunächst in Kooperation mit der Deutschen Bahn durch die 20 größten Bahnhöfe Deutschlands. Seit 2019 sind die Kunstwerke und mehrsprachigen Informationstexte in Rathäusern. Volkshochschulen, Firmen und anderen öffentlichen Räumen im In- und Ausland zu sehen. Akzeptanz, Respekt, Selbstbewusstsein und der Bruch mit der häufig reduzierenden Opferrolle stehen im Fokus der Ausstellung.
Die Entwicklung der WE ARE PART OF CULTURE wurde 2017 – 2019 durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ und die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert.
Das gemeinnützige Projekt 100% MENSCH bricht mit der Reduktion auf die Opferrolle von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen und Menschen mit einer geschlechtlichen Thematik.
Ziele der Ausstellung
- Sensibilisieren der Gesellschaft für die Belange von LGBTIQ* Personen
- Aufarbeitung der Geschichte von LGBTIQ* und ihrem Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung
- Aufbrechen der oft reduzierenden Opferrolle von LGBTIQ*
Empowerment durch das Aufzeigen von Identifikationsfiguren
Aufbrechen der „stillschweigenden Heterosexualisierung“ von Geschichte - Aufzeigen der Wichtigkeit von Vielfalt für eine produktive, zukunftsfähige, dynamische und kreative Gesellschaft
- Erreichung von gesellschaftlichen Gruppen, die mit LGBTIQ* Thematiken nicht vertraut sind oder eine negative Grundhaltung einnehmen.
Um ein breites Publikum zu erreichen, wurden folgende Methoden implementiert:
- die Ausstellungsräume sind öffentlich, eine zufällige Begegnung mit der Ausstellung ist zentral
- mehrsprachige Informationstexte
- Verwendung einer möglichst einfachen Sprache
- Informationstexte auf zwei Höhen (Steh- und Sitzhöhe (Rollstuhl)) bei den Bannersäulen
- Fokussierung auf die Lebensleistungen der dargestellten Persönlichkeiten (Empowerment)
Von Herbst 2017 bis Frühjahr 2019 wurde die Ausstellung in Kooperation mit der Deutschen Bahn AG in 20 großen Bahnhöfen Deutschlands gezeigt und konnte so ein breit gestreutes Publikum vorgestellt werden. Der Grad der Niederschwelligkeit, der Barrierefreiheit und der „Zufälligkeit der Begegnung“ ist für diese Form der Diversity-Ausstellung einzigartig.
Seit 2019 wandert die mehrsprachige WE ARE PART OF CULTURE nun in verschiedenen Präsentationsformen durch Rathäuser, Volkshochschulen, Firmen und andere öffentliche Räume im In- und Ausland. Die Aufarbeitung der Geschichte von LGBTIQ* sowie die Förderung von Akzeptanz und Respekt von Vielfalt stehen im Fokus der Ausstellung.
Die Auswahl der Persönlichkeiten
WE ARE PART OF CULTURE zeigt exemplarisch eine Auswahl berühmter LSBTIQ*-Persönlichkeiten aus den Bereichen Politik, Wissenschaft, Literatur, Musik, Kunst und Unterhaltung.
Eine möglichst gleichberechtigte Darstellung von Frauen, Männern und weiterer Geschlechter sowie eine ausgewogene Verteilung von der Antike bis heute war ebenso Grundlage der Auswahl, wie die Prämisse, trans und intergeschlechtlichen Personen trotz der geringen historischen Quellenlage so weit wie möglich in die Ausstellung zu integrieren.
Folgende Kriterien wurden bei der Auswahl der Persönlichkeiten zugrunde gelegt:
- Die Person wurde in Europa geboren und hatte ihr Hauptwirkungsfeld ebenda.
- Ihr Werk hat einen bleibenden Einfluss auf die Entwicklung ihres Wirkungsgebietes gehabt („Fußabdruck“) oder
- Die Person gilt als Vorreiter*in der Emanzipationsbewegung in Europa
- verstarb spätestens im 20. Jahrhundert.
Der vierte Punkt wurde im Verlauf des Auswahlprozesses auf den Todestag von Freddie Mercury (24. November 1991) konkretisiert. Mit der AIDS-Krise der 80er und 90 Jahre erlangte das Thema „Homosexualität“ eine bis dahin nie dagewesene weltweite Sichtbarkeit und Solidarisierung mit LSBTIQ* (in diesem Falle vor allem mit schwulen Männern). Auf Grund von HIV/AIDS wurden erste Aufklärungs- und Antidiskriminierungskampagnen durchgeführt und eine große Zahl berühmter Persönlichkeiten outeten sich oder wurden geoutet. Der Tod des Megastars Freddie Mercurys brachte LSBTIQ* schließlich in jede Zeitung und jeden Haushalt. Aus dem Blickwinkel der Ausstellung WE ARE PART OF CULTURE markiert diese Zeit daher einen Wendepunkt zur gesellschaftlichen Sichtbarkeit und Thematisierung und somit einen idealen Endpunkt der Ausstellung. (Mittlerweile wurden auch Persönlichkeiten aufgenommen, die nach 1991 verstorben sind. Bei diesen Personen liegen besondere Gründe vor.)
Die Suche nach geeigneten Persönlichkeiten erfolgte über verschiedene Kanäle wie Internet, Bücher, LSBTIQ*-Geschichtsvereine und Expert*innen. Die Suche ergab binnen kurzer Zeit eine Liste von über 300 Persönlichkeiten, welche in mehreren Entscheidungsrunden durch das Team des Projekts 100% MENSCH auf zunächst 36 Persönlichkeiten reduziert wurden.
Ausschlaggebend für die Endauswahl waren hierbei neben Bekanntheit, Wirkungsfeld und Jahrhundert auch die persönlichen Einschätzungen der Teammitglieder. Wie wir nicht nur auf den Vernissagen immer wieder betont haben, hätte jede besuchende Person der Ausstellung vermutlich eine völlig andere Auswahl getroffen.
Aus der Vielzahl von berühmten und markanten Persönlichkeiten wurden für die Erstausstellung final 19 Frauen (zwei davon trans), 17 Männer (einer trans) sowie eine vermutlich intergeschlechtliche Person ausgesucht.
Schwierigkeiten bei der Auswahl
Bei einigen Persönlichkeiten, insbesondere bei denen aus Zeiten, als Homosexualität unter schwerer Strafe stand (z.B. Sir Francis Bacon) oder keine antiken Aufzeichnungen vorhanden sind (z.B. Sappho), konnten keine gesicherten Aussagen über deren sexuelle Orientierung getroffen werden. Wenn Eigenzitate, Äußerungen von Zeitzeugen und aussagekräftige Indizien ein in sich schlüssiges Bild ergeben, so wurden diese Personen dennoch in die Liste mit aufgenommen. Die Bezeichnungen lauten in diesen Fällen „vermutlich schwul, lesbisch, trans“. Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Begriffe „homosexuell“, „bisexuell“, „schwul“, „lesbisch“ sowie „transsexuell“, „transgender“ und „intergeschlechtlich“ erst Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden, als Homosexualität und Geschlecht erstmals Inhalt wissenschaftlicher Untersuchungen und Pathologisierung wurden.
Persönlichkeiten, bei denen die wissenschaftliche Diskussion noch läuft (z.B. Leonard da Vinci, Florence Nightingale) wurden ebenfalls entsprechend gekennzeichnet.
In vielen Fällen waren die Persönlichkeiten trotz ihrer sexuellen Orientierung verheiratet (Scheinehen, dynastische Ehen etc.). Dieses galt insbesondere für Frauen, da diese über lange Zeit hinweg entweder nicht arbeiten durften oder für ihre Arbeit nicht bezahlt wurden. Somit war eine Ehe häufig die einzig mögliche Form der existenziellen Absicherung. Auch aus diesem Grund ist eine Abgrenzung zwischen „homosexuell“ und „bisexuell“ nahezu unmöglich. Im Zweifel wurde aus diesem Grund „schwul/bisexuell“ bzw. „lesbisch/bisexuell“ verwendet.
Kritik an der Ausstellung
Selbstverständlich gab und gibt es Kritik an der Ausstellung.
Eine Gruppe aus Münster veröffentlichte einen offenen Brief zur Ausstellung und kritisierte Farbauswahl, angebliches „pinkwashing“ und die Verwendung des Pronomens „WE“, also „wir“ im Titel der Ausstellung, was als Vereinnahmung empfunden wurde. Ohne Absender*in oder Ansprechperson konnten wir leider nichts anderes tun, als weiterzumachen.
Farbauswahl
Die Farbauswahl wurde als Reproduktion der Farben der „Reichsflagge“ kritisiert. Hierzu möchten wir sagen, dass es sich eher um die Farben der „Antifa-Flagge“ handeln könnte. Schwarz, rot, weiss.
Pinkwashing
Der Vorwurf lautete, wir würden mit der Farbgestaltung Werbung für die Deutsche Bahn machen und deren angeblich queerfeindliches Verhalten bei der Ausstellung „Homosexualitäten“ unterstützen.
Hierzu möchten wir klarstellen, dass das Farbkonzept schon vor Kontaktaufnahme mit der Deutschen Bahn feststand. Nicht die Deutsche Bahn hat die Bewerbung der Ausstellung behindert, sondern die Firma Stroer, deren Statuten Nacktheit auf ihren Flächen nicht zulassen.
Vereinnahmung durch das Wort „WE“
Das Wort „Wir“ im Titel würde vereinnahmen ohne dabei klarzustellen, wer das WE eigentlich ist und welche Perspektive eingenommen wird.
Diese Fragestellung ist valide und ist sogar Teil des Konzepts. Kultur ist immer eine Frage der Perspektive und der Deutungsmacht. Wer gehört dazu, wer wird ausgeschlossen, was wird als fremd und was als „eigene Kultur“ wahrgenommen. Was ist Hochkultur? Was ist Subkultur? Alle Persönlichkeiten der Ausstellung litten unter diesem Ausschluss. Sie waren nicht Teil des „WE“. Die Diskussion über Deutungshoheit und Kultur ist uns ein großes Anliegen.
Eine weiße Ausstellung
Die Kritik, die Ausstellung sei zu weiß, unterschreiben wir. Leider war es uns nicht möglich – trotz Kontakten zu Schwarzen Organisationen, Schwarzen Historiker*innen und anderen Expert*innen der Comminties of Color – geeignete Personen ausfindig zu machen. Die von vielen Kritiker*innen vorgeschlagenen Personen waren kein Europäer*innen. Wir bleiben aber weiterhin auf der Suche und konnten mit Elono de Cèspedes und Zeki Müren zwei weitere Persönlichkeiten of Color in die Ausstellung aufnehmen.